- Literaturnobelpreis 1912: Gerhart Hauptmann
- Literaturnobelpreis 1912: Gerhart HauptmannDer deutsche Schriftsteller erhielt den Nobelpreis für sein literarisches Werk, vornehmlich für seine reiche, vielseitige, hervorragende Wirkung auf dem Gebiet der dramatischen Dichtung.Gerhart Hauptmann, * Obersalzbrunn (Schlesien) 15. 11. 1862, ✝ Agnetendorf (Riesengebirge) 6. 6. 1946; 1880-82 Bildhauerstudium in Breslau, 1885-88 Aktivität in einem Berliner Schriftstellerkreis — Hauptmann entdeckt hier seine Berufung als Dichter, ab 1914 wechselweise in Berlin, Agnetendorf und Hiddensee, fast jährliche Aufenthalte in Oberitalien.Würdigung der preisgekrönten LeistungIm Jahr 1912 entbrannte auf dem Balkan ein militärischer Konflikt, der Europa direkt in den Ersten Weltkrieg führen sollte. Gerhart Hauptmann, der in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur erhielt, beschwor in seiner Dankesrede ganz im Geist der Nobelstiftung den gefährdeten Weltfrieden: »Eine dem Kriege dienende Kunst oder Wissenschaft sind nicht das Letzte und Echte; das Echte und Letzte ist, was vom Frieden geboren wird und den Frieden gebiert. Und ich hebe mein Glas auf den größten und letzten Nobelpreis, den die Menschheit dann verdient haben wird, wenn die rohe Gewalt unter den Völkern eine ebenso verfemte Sache geworden sein wird, wie es die rohe Gewalt unter den menschlichen Individuen der zivilisierten Gesellschaft bereits geworden ist.« Mit dem 50-jährigen Hauptmann wurde erstmals ein Dichter ausgezeichnet, der nicht im hohen Alter auf ein fast vollendetes Lebenswerk zurückblicken konnte, sondern auf der Höhe seiner Zeit und inmitten seines Schaffens stand.»Der heilige Gerhart«Gerhart Hauptmann gehört zu den prominentesten, aber auch umstrittenen Autoren der neueren deutschen Literatur. Vielfältige Formen kennzeichnen sein Werk: Autobiografie, Roman, Drama, Lyrik. Ebenso vielfältig sind die Stile. Hauptmann zählt zu den Mitbegründern des im ausgehenden 19. Jahrhundert weit verbreiteten literarischen Naturalismus, der in der Kunst nach einer naturgetreuen Abbildung der Wirklichkeit suchte. Den Nobelpreis erhielt er zu einem Zeitpunkt, als er vor allem durch seine sozialen Dramen in schlesischer und Berliner Mundart einen weltweiten Ruhm erlangt hatte.Leben und Werk des großen deutschen Dramatikers waren von vier Landschaften und Kulturräumen geprägt: der Insel Hiddensee, den Elbhöhen bei Dresden (Hohenhaus), dem Riesengebirge und Oberitalien. Im nördlichen Italien traf er im Herbst 1923 Thomas Mann (Nobelpreis 1929), der zu dieser Zeit gerade seinen »Zauberberg« verfasste. Untrennbar mit Hauptmann verbunden bleibt jedoch die Ostseeinsel Hiddensee. Dorthin reiste er von 1896 bis zu seinem Tod 1946 immer wieder. Auf der kleinen Insel bei Rügen diktierte er auch große Teile seiner Werke.Die sozialen DramenThomas Mann war es, der Gerhart Hauptmann als »Dichter des sozialen Mitleids« bezeichnete. In seinen sozialen Dramen behandelt Hauptmann — so formulierte es Hans Hildebrand, der Generalsekretär der Schwedischen Akademie, in seiner Laudatio — »die Lebensbedingungen des kleinen Mannes, die er an vielen Orten, besonders aber in seiner schlesischen Heimat, studieren konnte. Seine Darstellung beruht auf sehr genauen Beobachtungen der Umstände und der Menschen. Jede seiner Figuren stellt eine ganz aus dem Individuellen charakterisierte Persönlichkeit dar; nirgends findet man lebensferne Typen, nirgends auch nur die Spur eines abgestempelten Charakters. [...] Der Realismus seiner Beschreibungen zwingt uns, neue und bessere Lebensbedingungen anzustreben und deren Verwirklichung zu wünschen.« Gemeint sind hier die Dramen »Vor Sonnenaufgang« und »Die Weber«. Das zuerst genannte wurde am 10. Oktober 1889 im Berliner Lessingtheater von der »Freien Bühne« uraufgeführt. Das Skandalstück schildert in schonungsloser Darstellung des sozialen Elends die erschütternde Tragödie einer Familie im schlesischen Kohlerevier. Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang« bedeutete den spektakulären Durchbruch der naturalistischen Bewegung auf der Bühne des deutschen Theaters.Im Schauspiel »Die Weber« (1894) beschreibt Hauptmann das Leid und Aufbegehren der schlesischen Weber. Historisches Vorbild waren spontane Aufstände in drei schlesischen Orten im Juni 1844. In Hauptmanns Drama verkünden die Leidgeprüften im unmittelbaren Anschluss an das berühmte Weberlied: »Und das muss anderscher wern [...] jetzt uf der Stelle. Mir leiden's nimehr!«Der sozialpolitische Sprengstoff in Hauptmanns Dramen erregte den Argwohn des kaiserlichen Deutschlands. Als die Nobelpreisverleihung bekannt wurde, schrieb die Londoner »Pall Mall Gazette«: »Die Verleihung des Nobelpreises an Herrn Hauptmann wird vom Kaiser wahrscheinlich nicht mit ungeteilter Freude begrüßt werden. Zwar ist es ein Triumph für sein Land, dass es diesen Preis bereits viermal errang.. .. Doch vertritt Gerhart Hauptmann eine dramatische Schule, für die der Kaiser wenig Sympathie empfinden dürfte.« An der Offenheit des Dramaschlusses von »Die Weber« entzündete sich auch der Vorwurf vieler Gesellschaftskritiker, dass in der bloßen Schilderung der sozialen Lage jedweder revolutionäre Aktionismus geopfert werde.Die neuromantischen DramenDer Nobelpreis wurde Hauptmann auch aufgrund seiner romantisch-mystischen Werke verliehen. In der Laudatio heißt es hierzu: »Hauptmann hat auch dramatische Werke ganz anderer Art geschaffen, Märchendramen, wie er sie nennt. Dazu zählt »Hanneles Himmelfahrt« (1893), ein entzückendes Stück, in dem sich der Kontrast zwischen dem Elend des Lebens und der himmlichen Verklärung deutlich abzeichnet.« Mit diesem Stück und dem drei Jahre später größtenteils auf Hidddensee entstandenen Märchendrama »Die versunkene Glocke« vollzog Hauptmann eine Wende zur Neuromantik. In dem lyrischen Drama »Hanneles Himmelfahrt« dichtet Hauptmann über die Träume eines schlesischen Mädchens an der Schwelle zum Freitod aus Angst vor dem trunksüchtigen und gewalttätigen Stiefvater.Hauptmanns verklärender Dichtung ist der Verrat an der sozial- und gesellschaftskritischen Aufgabe des Theaters vorgeworfen worden. Für den Sozialisten Franz Mehring, einst ein Anhänger der Werke Hauptmanns, war dieses Stück nichts anderes als »verheuchelter Mystizismus zu Ehren der ausbeutenden [...] Klassen«.In den Tragödien »Fuhrmann Henschel« (1898) und »Rose Bernd« (1903) kehrte Hauptmann jedoch wieder stärker zu den naturalistischen Ansätzen der Frühzeit zurück. 1910 erschien der bahnbrechende religiöse Roman »Der Narr in Christo Emanuel Quint«, der heute als Hauptmanns wichtigstes episches Werk gilt. Bereits in der Laudatio von 1912 wurde es als »bedeutendes und meistdiskutiertes Werk « bezeichnet.M. Kempe
Universal-Lexikon. 2012.